Leon Rochlitzer
Autor - Selfpublisher - Hörbuchsprecher
Lese- & Hörprobe zu

Prolog
Lars’ Herz hämmerte wie wild gegen seine Brust. Mit dem Rücken an die Tür gelehnt sah er seinem Tutor dabei zu, wie dieser hastig, aber hoch konzentriert etwas auf ein Stück Pergament schrieb. Legatus Quirin kauerte halb sitzend, halb stehend über seinem Eichenholzschreibtisch und sah erst auf, als er am untersten Rand der Seite angekommen war. Seine braunen Augen fixierten Lars, als er den Brief zweimal faltete.
»Du musst!«, sagte er, nahm einen Umschlag aus einer Schublade und ließ den Brief hineingleiten. »Es ist die einzige Möglichkeit.« Er goss einen Klecks Wachs auf den Briefverschluss, drückte seinen Ring hinein und hielt einige Atemzüge inne.
Lars löste sich von der Tür und trat an den Schreibtisch. »Ich kann Sie doch nicht hier zurücklassen, Sie können doch mit mir kommen!«
»Nein, mein Notfallplan hat nur Platz für eine Person und ich kann dir Zeit verschaffen. Sie sind hinter mir her, vergiss das nicht!« Der Legatus schüttelte energisch den Kopf und hastete um den Schreibtisch. »Du weißt, was wir besprochen haben?« Er drückte Lars den Briefumschlag gegen die pochende Brust, ihre Gesichter kaum mehr als eine Handbreite voneinander entfernt.
Lars schluckte. »Ladehalle, ich frage nach einem Herbert, braune Haare, Vollbart. Zeit, zu gehen.«
»Es ist wichtig, dass du genau diese Worte sprichst, ja? Sage nichts weiter. Er wird wissen, was zu tun ist. Und jetzt geh!« Quirin trat zur Tür, öffnete sie und spähte den dunklen Korridor auf und ab. »Die Luft ist rein. Mach, dass du hier wegkommst!« Einen Augenblick lang sahen sich die zwei an. Dann tat Legatus Quirin einen Schritt vor und schloss Lars in eine Umarmung, die dieser erwiderte. »Es war schön, mit dir gearbeitet zu haben!« Der Legatus löste sich von ihm und schob ihn unsanft auf den Flur. »Du darfst keine Zeit verlieren, lauf!«
Lars fehlten die Worte und ehe er sie wiedergefunden hatte, fiel die Tür ins Schloss und wurde von innen verriegelt. Ihm wurde schlecht. Er blickte zu dem Brief in seinen zitternden Fingern. Keine Zeit verlieren, erinnerte er sich an Quirins Worte, wandte sich um und eilte im Laufschritt den Korridor entlang.
Auf seinem Weg durch das Gebäude begegnete er keiner Menschenseele. Kein Wunder, dachte er, außer ihnen war niemand entkommen …
Er spurtete die Wendeltreppe hinab und sah schon die Tür am Fuß der Treppe, da hielt er abrupt inne. Er musste nicht angestrengt horchen, das Getrampel war unverkennbar. Soldaten! Lars nahm die letzten zwei Stufen und, anstatt das Treppenhaus durch die Tür zu verlassen, verkroch er sich unter die Wendeltreppe. Und das im genau richtigen Moment. Keinen Wimpernschlag später wurde die Tür aufgerissen und mindestens ein Dutzend Paar Füße polterte über seinen Kopf hinweg die Treppe hinauf.
»Schneller, schneller!«, trieb eine tiefe Männerstimme den Zug an. »Er wird wissen, dass wir kommen!«
Nachdem er die Schritte des letzten Soldaten hatte verstummen hören, stach ihm der Gedanke an Quirin schmerzhaft in die Eingeweide. Er war den Soldaten hilflos ausgeliefert. Aber Lars durfte nicht umkehren, er musste den Brief an das hohe Primat der Institution übergeben!
Also zwang er seine Beine, aufzustehen, schlüpfte aus dem Treppenhaus, nahm die letzten Abzweigungen und war schließlich am Hinterausgang angelangt. So leise wie möglich öffnete er die Tür und rannte ins Freie.
Kapitel 1 – Die Kundgebung
Unter dem Begriff des Diskussionstheaters – oder besser: des theatralen Diskutierens – versteht man eine weit verbreitete Lehr- beziehungsweise Lernform, die im Fach Rhetorik häufige Anwendung findet. Dabei geht es …
Emil hielt mitten im Satz inne und lauschte. Im Flur vor seinem Zimmer konnte man Schritte hören und erst, als sich diese langsam wieder entfernten, wagte er es, weiterzulesen:
Dabei geht es darum, dass die Zukünftigen lernen, verschiedene Voreingenommenheiten als solche zu erkennen, zu analysieren und im nächsten und allerwichtigsten Schritt nachzuahmen. Anhand konkreter Interessenskonflikte soll nicht nur vermittelt werden, wie vielseitig und zugleich widersprüchlich die Interessen verschiedener Parteien sein können, die Zukünftigen sollen dadurch vor allem befähigt werden, eine Entscheidung zu fällen, die alle Parteien in einem ausgeglichenen Maße befriedigt. Es ist …
Erneut ein Geräusch. Eine Diele knarzte und Emil zuckte zusammen. Hastig klappte er das schwere, in Leder gebundene Buch zu und schob es behutsam hinter seinen Nachttisch, der sein Bett von dem seines Mitbewohners, Bruno, trennte. Der schlief mit offenstehendem Mund.
Emil verharrte regungslos auf der Bettkante und wiederholte die soeben gelesenen Worte:
»… verschiedene Voreingenommenheiten als solche zu erkennen, zu analysieren und nachzuahmen …« Schritte verstummten vor der Tür. Schleunigst blies er die Kerze auf dem Nachttisch aus und kroch unter seine Bettdecke. Gerade als er die Augen schließen wollte, drehte jemand aufs Behutsamste den Knauf, öffnete die Tür einen Spalt weit, um zu sehen, ob sie auch ja in ihren Betten lagen, und zog sie nach wenigen Atemzügen wieder zu.
Emil schüttelte nur leicht den Kopf, drehte sich auf die Seite und schloss die Augen.
»Emil!« Jemand rüttelte an seiner Schulter. »Emil, wach auf!« Erschrocken riss er die Augen auf und starrte in das Gesicht von Bruno. Er zuckte unwillkürlich zusammen.
»Bruno, was zum …« Gähnend setzte sich Emil auf und kniff die Augen zusammen, denn Bruno hatte die Kerze auf dem Nachttisch entzündet.
»Was ich will? Dir Feuer unterm Hintern machen! Was denn sonst? Weißt du nicht, was heute für ein Tag ist?«
Die Erkenntnis traf Emil wie eine Ohrfeige. »Heute ist Bürgerdialog!«, platzte es aus ihm heraus. »Wie konnte ich das bloß vergessen?!«
»Sch!« Sein bester Freund legte ihm einen Finger auf die Lippen und wisperte: »Du weckst sie noch auf …«
»Ist ja gut, tut mir leid.« Er stand auf und wandte sich dem Fenster zu. Erste Sonnenstrahlen kämpften gegen die tiefe Dunkelheit an. »Wie spät ist es denn?«
»Gerade hat es fünf Uhr geschlagen. Die Sonne müsste sich bald zeigen.« Bruno trat zum Fenster und starrte ebenfalls nach draußen. »Wir sollten nicht länger trödeln.«
»Wo sind die anderen?«, fragte Emil, während er sich sein Leinenhemd über den Kopf zog und zuschnürte.
»Unten. Und da sollten wir auch bald sein, wenn wir nicht wollen, dass uns Minna einen Strich durch die Rechnung macht.« Er öffnete das Fenster und es dauerte nicht lange, da spürte Emil die kühle Morgenluft auf seiner Haut.
»Ja, ich bin schon fertig. Als ob die paar Sandkörner etwas ausmachen …«
»Und ob sie das tun. Du weißt, Zeit ist Geld.« Bruno sah ihn verschmitzt an. »Wo hast du das Seil denn das letzte Mal hin?« Er sah sich fragend um.
»Unter mein Bett.«
Vorsichtig schlich sein Freund durch das Zimmer, bückte sich und zog eine Reihe aneinandergeknoteter Strümpfe hervor. Brunos kurze dunkelbraune Haare standen in alle Richtungen ab, während er das provisorische Seil zuerst entwirrte und dann um einen Deckenbalken band. »Auf geht’s«, sagte er schließlich und schleuderte das zweite Ende aus dem Fenster. »Die anderen werden noch unruhig.« Mit diesen Worten zwängte er sich durch die kleine Öffnung und verschwand auch schon aus Emils Blickfeld. Dieser warf sich zu guter Letzt seinen Mantel über, spritzte sich Wasser aus der Wanne neben seinem Bett ins Gesicht, fuhr sich mit den nassen Händen durch sein lockiges Haar und folgte ihm.
Im Nu brachte er die zwei Stockwerke hinter beziehungsweise über sich und atmete erleichtert aus, als er wieder festen Boden unter sich spürte. Der nahende Sonnenaufgang färbte den Himmel schimmernd blau und tauchte den Garten des Waisenheims in eine geheimnisvolle Atmosphäre, in der Emil seine Freunde Lukas und Peter hinter einem Baum entdeckte. Peter, der größere und schlaksigere von beiden, tippelte nervös mit dem Fuß. »Na endlich! Können wir jetzt los?« Er kratzte sich seinen langen Hals und blickte nach oben zum offenstehenden Fenster.
»Ach, Peter«, raunte Lukas mit seiner tiefen und gelassenen Stimme. »Mach dir mal nicht in die Hosen! Minna schläft noch und wir haben genug Zeit.« Stämmig, wie Lukas war, ließ er Peter neben sich umso dünner aussehen. Die Hand, die er Peter auf die knochige Schulter legte, beruhigte ihn offensichtlich etwas.
»Dann mal los.« Bruno übernahm die Vorhut, während ihm die übrigen durch den Garten folgten, in dem die ersten Vögel zum Leben erwachten und ihr Gezwitscher zum Besten gaben. Der Nebel bot ihnen Deckung vor neugierigen Blicken. Sie erreichten die Mauer und gaben sich gegenseitig eine Räuberleiter, denn das Eisentor war um diese Stunde fest verschlossen. Als Letzter hievte sich Bruno auf die andere Seite und so eilten sie durch die schläfrigen Straßen von Altatorres.
Mit jeder Gasse, die sie im Laufschritt durchquerten, stieg Emils Aufregung. Die Sonnenstrahlen erreichten den Pflasterstein zu ihren Füßen – Bruno hatte Recht, ihnen rannte die Zeit davon!
»Wer kommt denn auch auf die bekloppte Idee, einen Bürgerdialog bei Sonnenaufgang zu veranstalten?«, keuchte Lukas, der sich hinter den anderen drei herschleppte und Schweißperlen auf der Stirn mit sich herumtrug.
»Komm schon, nicht schlapp machen!« Bruno ließ sich zu seinem Freund zurückfallen. »Stell dir nur vor, was wir da alles ergattern können! Nicht den ganzen Ramsch von den Straßen, nein, da werden allerlei wichtige Leute sein, und zwar mit prall gefüllten Geldbörsen!«
Emil wandte sich genervt ab. Er versuchte, nicht daran zu denken, dass die anderen nur wegen der Beute – wie sie ihr Diebesgut zu nennen pflegten – zu der Versammlung gingen. Er stellte sich vor, worüber der Primus der Institution in seiner Rede sprechen würde, und konnte sich so auf andere Gedanken bringen.
Sie bogen in eine der größeren Straßen von Altatorres ein, die bereits voll von geschäftig umhereilenden Händlern, grimmig dreinblickenden Handwerkern und bemitleidenswerten Bettlern war. Mittlerweile ließ das Sonnenlicht den Pflasterstein und das Gemäuer der Häuser grell leuchten, sodass Emil für einen Moment die Augen zusammenkniff.
Hinter ihnen pfiff und ratterte es. Erschrocken sprang er zur Seite: Ein Segelzug fuhr nur wenige Fuß entfernt an ihm vorbei. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er auf den Gleisen gelaufen war.
»Na, Lukas«, begann Bruno breit grinsend, »Laufen oder Fahren?«
»Soll das ein Witz sein?« Keuchend holte Lukas neben den Wagons auf. Die anderen folgten ihm. In Emils Bauch kribbelte es leicht, wie jedes Mal, wenn sie auf einen fahrenden Segelzug sprangen. Mit einem wuchtigen Satz hievten sich die Freunde auf die Ladeplattform eines hinteren Güterwagens und ließen sich auf ein paar Säcken voller Gemüse nieder. In der Ferne schrie eine Männerstimme. Als sich Emil umwandte, sah er eine Gruppe Soldaten, die in ihren schweren Rüstungen zeitweise die Verfolgung aufgenommen hatten. Sie beließen es jedoch schon nach wenigen Atemzügen bei ein paar wütenden Blicken, derben Flüchen und erhobenen Fäusten.
Während Peter immer noch nervös am Rande des Wagens stand und nach den Verfolgern Ausschau hielt, ließ sich Lukas stöhnend nach hinten fallen.
»Aber, Lukas«, sagte Bruno in gespielt tadelndem Ton. »Nur dass du Bescheid weißt: Es wird nicht geschlafen, wir müssen bald wieder runter.« Auf einmal zog er ein Messer aus seiner Tasche.
Emil, der zuvor noch das Segel beobachtet hatte, das gute hundert Fuß über ihnen schwebte, stockte: »Was hast du vor?«
»Keine Angst …« Und da steckte die Klinge auch schon in einem der Säcke und eine Ladung Karotten kullerte auf den Holzboden. »Bedient euch«, fügte Bruno hinzu und nahm sich sogleich eine. Entspannt tat er es Lukas gleich, lehnte sich nach hinten und legte den Arm über die Augen.
Gedanklich den Kopf schüttelnd und keine Karotte anrührend, wandte Emil seinen Blick wieder dem Segel zu. Es beruhigte ihn zutiefst, wie es vom Wind in verschiedene Richtungen gelenkt wurde, wie der Zug daraufhin verschieden stark beschleunigte und wie der Segelmeister die Höhe des Segels so einstellte, dass es wieder optimal vom Wind nach vorn gezogen wurde.
»Wir sollten abspringen.« Peter stand nach wie vor an der Kante des Wagens und spähte besorgt in Fahrtrichtung. »Ich glaube, der Zug hält hier an.«
»Na gut«, murmelte Bruno und erhob sich gelassen. »Lukas, noch wach?« Er kickte gegen dessen Schienbein.
»Aua! Natürlich bin ich noch wach! Du musst mich doch nicht gleich tre–«
Bruno unterbrach ihn: »Schon gut, Kumpel. Steh trotzdem auf, wir springen lieber, bevor der Zug die Haltestelle erreicht.« Mit diesen Worten stellte er sich neben Peter an die Kante.
Emil stand auf. Das Kribbeln in seinem Bauch wurde wieder stärker. Was der Primus wohl zu berichten hatte? Wie lange war es her, dass er sich persönlich an die Bevölkerung gewandt hatte?
Nachdem Lukas aufgestanden und an die Kante getreten war, kam auch Emil dazu. Gemeinsam sprangen sie von der Ladefläche, rollten sich geübt auf der Straße ab – nicht ohne dabei für gewisses Aufsehen unter den Passanten zu sorgen – und verschwanden in einer Seitengasse. Nach wenigen Schritten erreichten sie ihr Ziel: den Novellenplatz. Sie schlängelten sich durch die Menschenmenge, die sich bereits auf dem Platz versammelt hatte. Emil erkannte vor allem Händler, die stets die Mehrheit der Zuhörenden ausmachten und mit ihrem Schmuck und den prächtigen Umhängen sofort auffielen. Nur vereinzelt sah man Handwerker wie Bäcker, Maurer oder Schmiede, allesamt an ihrer Zunftkleidung zu erkennen. Von anderen Jugendlichen gab es nicht die geringste Spur.
Sie erreichten endlich die erste Reihe. Nun musste Emil nicht mehr hochspringen, um zu erkennen, was auf dem Platz vor sich ging.
Inmitten der freien Fläche schwebte ein massives, aus Marmor gehauenes Podest gut drei Fuß über dem Erdboden. In Gedanken versunken merkte Emil kaum, wie sich seine Freunde von ihm verabschiedeten, sich aufteilten und unter die Leute mischten, die den bestens geübten Taschendieben hilflos ausgeliefert waren. Seine Augen waren wie gebannt auf das schwebende Podest gerichtet. Darauf saß bereits ein gutes Dutzend Institutioneller hinter einem langen Holztisch, Papierstapel, Federhalter und Tintenfässer vor sich. Alle waren in prächtige dunkelblaue Umhänge gehüllt, bis auf eine ältere Dame mit strengem Gesichtsausdruck ganz rechts, die mit ihrem weißen Umhang besonders hervorstach.
Was machte eine Magistratin bei einem Bürgerdialog? Normalerweise nahm das Blau der Legaten das gesamte Podest ein …
Doch Emil dachte nicht länger darüber nach, denn ein Stuhl war noch leer. Es war ebendiese Tatsache, die ihn von einem Fuß auf den anderen hüpfen ließ. Hier würde sich in wenigen Augenblicken der Primus der Institution niederlassen.
Hinter dem leeren Stuhl konnte man auf die roten Ziegeldächer der Stadt blicken. Und wenn man seine Augen gegen das grelle Sonnenlicht abschirmte, sah man einen Turm, dessen Spitze wiederum so weit gen Himmel ragte, dass sie trotz der guten Wetterbedingungen nicht mehr zu erkennen war: Der Turm, wie er unkreativerweise von der breiten Bevölkerung bezeichnet wurde, war der Sitz der Institution. Ob der Primus wohl noch einige hundert der abertausenden Treppen vor sich hatte, die es dort sicherlich geben musste?
Es erklang ein widerhallendes Läuten in der Stadt, angefangen bei den Glocken im Turm, doch schon bald begleitet von zahlreichen anderen – wohlbemerkt normalgroßen – Türmen, die sich über ganz Altatorres verteilten.
Emil stellte sich auf Zehenspitzen und reckte den Kopf. Schließlich sah er zwei Helme, gefolgt von den Körpern zweier Soldaten, die die Treppe zum Podest emporstiegen. Hinter den in schlichtem Grau gehaltenen Rüstungen sah Emil ihn endlich. Primus Pascal erschien auf dem Podest, lächelte zuerst den anderen Institutionellen und dann der Menge auf dem Platz zu. Plötzlich hielt er inne und versuchte, eine aufgegangene Schlaufe der Primatentracht wieder zuzuknoten, die ihm bis zum Boden reichte. Mit ihren zahlreichen Fellen und Verzierungen war sie sicherlich viel zu warm, trotz der frühmorgendlichen Kälte. Er gab das Zuknoten kopfschüttelnd auf, sodass die Tracht von seiner Schulter rutschte.
Einige in der Menge begannen, verhalten zu kichern, und Emil beobachtete ebenfalls schmunzelnd, wie der Primus die Hand entschuldigend hob. Nach einem weiteren kläglichen Versuch entschied er, die Robe ganz abzunehmen. Er drückte sie einem seiner Begleiter in die Arme und nahm die letzten beiden Stufen auf einmal, wobei er sich etwas verlegen die langen Haare aus seinem kantigen Gesicht strich.
Die Institutionellen an der Tafel erhoben sich. Den meisten gelang es sogar, ihre ernste Miene beizubehalten, doch manchen missfiel es offenkundig, dass ihr Vorsitzender die Tracht abgenommen hatte. Der Primus hingegen trat unbekümmert an das Sprachrohr und räusperte sich.
»Entschuldigen Sie diese kleine Komplikation, jetzt können wir beginnen: meine verehrten Bürger, herzlich willkommen zu unserer allwöchentlichen Novelle!« Er deutete eine Verbeugung an und nickte seinen Kollegen zu beiden Seiten zu, wonach sich diese wieder setzten. »Es freut mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Zugegebenermaßen wäre auch mir eine spätere Stunde lieber gewesen, aber leider verlasse ich die Hauptstadt bereits wieder in zwei Stunden und wollte die Novelle nicht noch einmal verschieben.« Er lächelte den Zuhörenden zu. »Wie Sie sicherlich schon mitbekommen haben oder es spätestens jetzt sehen, bin ich heute Teil dieser Novelle und bestimmt haben Sie sich schon gefragt, woran das liegen könnte … Nun, mein Anliegen ist es, Ihnen in Anbetracht der jüngsten Eskalation, die in Petrovolantis stattgefunden hat, Rede und Antwort zu stehen.«
In der Menge nickten einige Köpfe, als sei es höchste Zeit für diese Aufklärung. Immerhin war der Flüchtlingstransfer in der Vergangenheit populär diskutiert worden und das in nahezu allen Bevölkerungsgruppen.
»Ich weiß, dass wir alle gespannt die Fortschritte in den Verhandlungen verfolgt haben. Umso schwerer wiegt dieser Rückschlag und umso bedauerlicher ist es auch, dass die Institution keine eigenen Ermittlungsfortschritte vorweisen kann. Der Süden bleibt –« Lauter Tumult brach im Publikum aus, die Leute riefen Beschimpfungen in Richtung Podest. Primus Pascal hob beruhigend die Hand, doch vergebens.
»Wie soll denn das gehen?!«, brüllte ein bärtiger Mann ganz in Emils Nähe. »Sie hatten doch genug Leute vor Ort!«
»Lügner! Sie stecken doch sicherlich mit denen unter einer Decke!« Emil drehte sich um hundertachtzig Grad und sah einen Steinmetz mit muskulösen Oberarmen, der ziemlich wütend dreinschaute und seine Faust in Richtung Podest streckte.
Der Primus schloss kurz die Augen, wie um sich zu sammeln, ehe er fortfuhr und die Menge nach und nach zur Ruhe brachte: »Ich weiß selbst, dass das keine zufriedenstellende Nachricht ist, aber alle Institutionellen, die an besagtem Tag in Petrovolantis waren, sind bei dem Vorfall bedauerlicherweise verstorben …« Primus Pascal hielt inne und jene, die sich zuvor noch lauthals beschwert hatten, blickten überrascht und schockiert drein. »Lediglich die militärische Begleitung hat überlebt, doch dies auch nur, weil es die Flüchtlinge nicht bis zum vorgesehenen Übergabeort geschafft haben. Insofern haben sie den Vorfall nicht mitbekommen und können uns bei den Ermittlungen kaum weiterhelfen … Bis zum aktuellen Zeitpunkt haben wir also nur die Aussage des Südens und dieser bleibt bei seiner Schilderung, dass die Flüchtlinge die Gastfreundschaft für einen, so wörtlich, heimtückischen Hinterhalt ausgenutzt hätten.«
Nun schüttelte auch Emil energisch den Kopf. Mehr als ein Jahr hatte die Institution in Verhandlungen versucht, den autonom regierten und somit nicht unter ihrer Kontrolle stehenden Süden dazu zu bewegen, den Flüchtlingen der Ebene Asyl zu gewähren – ohne Erfolg. Erst als man ihnen einen beträchtlichen finanziellen Ausgleich versprochen hatte, waren sie bereit gewesen, ihre Tore zu öffnen und die Geflüchteten in Richtung des Hoheitsgebietes der Institution passieren zu lassen. Emil glaubte nicht an einen Hinterhalt der Flüchtlinge, wieso sollten sie das auch tun? Es lag doch auf der Hand, wer ein Interesse daran hatte, sie in ein schlechtes Licht zu rücken!
Die Menge tobte trotz der Todesnachricht weiter:
»Was?!«
»Natürlich behaupten die das, die wollten nie, dass Fremde in ihr Land kommen und ihnen ihren ach so tollen Reichtum«, der Sprecher spuckte bei diesem Wort verächtlich zu Boden, »wegnehmen.«
»Und die Institution glaubt das?«, kam es sogleich von mehreren, woraufhin Primus Pascal einen Moment nachdenklich zögerte. Schließlich sagte er, und es klang, als hätte er sich jedes seiner Worte genaustens überlegt: »Wissen Sie, ich selbst war großer Befürworter und Verfechter dieser Grenzöffnung.«
Viele der Institutionellen wandten den Kopf zu ihrem Vorgesetzten und fixierten ihn mit einer erstaunten, wenn nicht sogar gierigen Miene.
Doch der Primus ließ sich davon nicht beirren und fuhr fort: »Am liebsten wäre ich selbst vor Ort gewesen, um Ihnen hier und jetzt meine Schilderung der Vorkommnisse liefern zu können, aber seien Sie sich sicher: Die Institution bildet sich nicht vorschnell und aufgrund eines parteiischen Berichts ihr Urteil. Wir werden dieser Frage nachgehen und haben bereits am gestrigen Tag einen Flugsegler mit einigen Ermittlern und Soldaten entsandt, sodass wir so schnell wie möglich verlässliche Antworten bekommen … Aber nun, und ich bitte die Kürze meines Auftrittes zu entschuldigen, gebe ich das Wort an Minister Friedrich ab, der Ihnen einen Überblick über die restlichen Ereignisse der Woche …«
Aber die Stimme des Primus ging zwischen lauten Rufen unter, die über den Platz hallten. Aus mehreren Gassen strömten dutzende, ja hunderte Menschen auf den Novellenplatz und in einem nicht ganz perfekt eingestimmten, aber dennoch überaus wirkungsstarken Chor brüllten sie aus Leibeskräften: »Nieder mit der Institution! Nieder mit der Institution!« Emil erspähte Schilder, auf denen derselbe Satz in roten Lettern geschrieben stand. Aus allen Richtungen eilten Soldaten herbei und versuchten, die Menge der Protestierenden vom Novellenplatz fernzuhalten, doch gegen deren Übermacht konnten sie nichts ausrichten. Um Emil herum begann nun ebenfalls ein immer heftiger werdendes Gedränge. Er wurde nach links und rechts mitgerissen und hatte Schwierigkeiten, auf den Beinen zu bleiben.
Hastig blickte er in Richtung Podest, wo nur noch der Primus an seinem Platz stand und mit einem Ausdruck tiefen Bedauerns die Szenerie beobachtete. Die anderen Institutionellen hatten sich aus Angst vor einem tätlichen Angriff schon aus dem Staub gemacht – Emil konnte gerade noch ihre Hinterköpfe die Treppe hinuntereilen sehen. Ein Soldat redete dem Primus mit ernster Miene zu, bis dieser sich widerwillig abwandte und ebenso verschwand.
»Emil! Emil!«, rief eine bekannte Stimme direkt neben ihm und er fuhr erschrocken zusammen. Bruno hatte sich offenbar durch das Chaos zu ihm durchgekämpft und zog ihn am Arm. »Lass uns abhauen, hier wird es bestimmt gleich unangenehm!« Er deutete hinter sich, wo bereits die ersten Rangeleien zwischen Soldaten und Protestierenden ausbrachen und zu einer Massenschlägerei zu werden drohten. Die Passanten auf dem Platz strömten panisch in alle möglichen Richtungen davon.
Emil schluckte und folgte seinem Freund, das freudig erregte Kribbeln im Bauch von zuvor war einem unangenehm stechenden Gefühl gewichen.
»Was war denn da los?« Er keuchte, als sie neben Peter und Lukas zum Stehen kamen, die bereits etwas abseits des Novellenplatzes auf sie warteten.
»Da scheint wohl jemand richtig wütend zu sein.« Bruno grinste süffisant.
»Aber so auf Krawall gebürstet waren sie doch noch nie, oder?« Emil ignorierte die Tatsache, dass seine Freunde allesamt auf der Seite der Protestierenden standen.
»Emil«, begann Bruno ungeduldig und sah ihn eindringlich an, »wieso nimmst du die Institution eigentlich ständig in Schutz? Ich mein, die scheren sich doch einen Dreck um uns, oder?«
»Lasst uns lieber schnell nach Hause gehen, bevor Minna etwas merkt. Es ist schon spät!«, drängte Peter und beendete damit die Diskussion.
Den ganzen Weg zurück dachte Emil darüber nach, wie es so weit gekommen war, dass die Bevölkerung derart wütend war. Merkten die Menschen, merkte Bruno denn nicht, dass so vieles um sie herum nur dank der Arbeit der Institution möglich war und dass sie ihr Bestes gab, den Bürgern zu helfen?